Sonntag, 21. November 2010

Überlegungen zum Thema Chancengleichheit

Eines der vielen Dauerthemen unserer Bildungspolitik ist die Chancengleichheit (vgl. etwa U.J. Heuser in Merkur 63. Jg, Januar 2009). Vielfache Erhebungen und Untersuchungen (PISA-Studien, Allensbach) kommen zu dem Ergebnis, dass die Chancengleichheit in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen ist und die Möglichkeiten zu wirtschaftlichem und sozialem Aufstieg sich deutlich verringert haben. Frau Professor Köcher vom Allensbacher Institut für Demoskopie hat die daraus entstehende Haltung als "Statusfatalismus" bezeichnet.
Auf derartige Befunde, deren Richtigkeit oder Genauigkeit wir hier nicht nachprüfen wollen, folgt reflexhaft seitens der von den Medien vertretenen Öffentlichkeit die Forderung nach und seitens der Politiker das Angebot von: Verbesserung der Aufstiegschancen ! Offensichtlich wird als einzige oder wesentliche Ursache verringerter Aufstiegsmöglichkeiten die fehlende oder unzulängliche Förderung ausgemacht, die folglich zu verbessern ist. Eine Ursachenanalyse findet nicht statt. Der Reflex folgt der weit verbreiteten Devise: Therapie ohne Diagnose!
Erlauben wir uns die von der "herrschenden Meinung" abweichende Frage: Ist mangelnde Förderung tatsächlich die einzige oder wesentliche Ursache für verringerte Chancengleichheit und mangelnde Durchlässigkeit, ist sie die einzige Ursache für die niedriger gewordene Aufsteigerquote? Diese Frage wäre uneingeschränkt zu bejahen, wenn die Förderung durch Staat und Gesellschaft das einzige Motiv für den Aufstiegswillen wäre! Aber der Impuls zum Aufstieg wird doch nicht durch mehr oder weniger günstige und reichliche Förderungsmöglichkeiten ausgelöst! Jemand wird doch nicht aufsteigen wollen, weil die Fördermöglichkeiten so attraktiv sind, wenn auch nicht verkannt werden soll, dass solche "Mitnahme-Mentalität" sich in unserer Gesellschaft verbreitet hat.
Am Anfang steht der Aufstiegswille selbst, ausgelöst durch das schon vor mehr als zweihundert Jahren von dem schottischen Moralphilosophen und Aufklärer Adam Smith systematisch beobachtete "Streben des Menschen nach Verbesserung seiner materiellen und sozialen Lage". Und diese Lage, gewissermaßen die Ausgangs-Lage für den Impuls zum Aufstieg, ist heute im Vergleich etwa zu den 80er- oder 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts erheblich verbessert. Wir haben in allen Schichten der Gesellschaft einen zuvor nicht gekannten Anstieg des Lebensstandards erreicht. Könnte es also nicht sein, dass der Impuls zur Verbesserung ihrer Lage angesichts eines vergleichsweise hohen Lebensstandards für viele geringer geworden ist oder nicht mehr stark genug entsteht? Könnte es nicht sein, dass viele potentielle Aufsteiger gar nicht mehr erst zum Aufstieg antreten?
Ähnlich negative Auswirkungen dürften Mentalitätsveränderungen haben, die in den letzten Jahrzehnten in der gesellschaftlichen Entwicklung eingetreten sind: Die Leistungsgesellschaft ist zur Anspruchsgesellschaft mutiert. Leistung ist generell diskreditiert, Ansprüche ohne Vor- oder Gegenleistungen sind großzügig verteilt worden. Selbstverwirklichung, zwangsläufig verbunden mit einer gehörigen Zunahme von Egozentrik, und Besitzstandwahrung sind in den Rang goldener Kälber erhoben worden. Dienst am Nächsten, an einer kleinen oder größeren Gemeinschaft, gar an einer Sache, erscheint eher als bemitleidenswerte Verhaltensauffälligkeit.
Diese Akzentverschiebungen im menschlichen Verhalten und Handeln sind nicht ohne gravierende Auswirkungen geblieben, zunächst auf den Leistungswillen und sodann auf die Leistungsfähigkeit einer jungen Generation, die in einer solchen Atmosphäre aufwächst. Könnte es also nicht sein, dass erstens vergleichsweise weniger Kandidaten als in früheren Jahrzehnten zum Aufstieg antreten und zweitens infolge verringerter Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit vergleichsweise weniger Angetretene den Aufstieg schaffen als früher? Geduld und Beständigkeit, Ausdauer und Hartnäckigkeit sind nicht gerade die hervorragenden Merkmale unserer Erziehung. Schule muss Spaß machen! ist vor Jahrzehnten als oberste Parole ausgegeben worden. Da haben dann solche für den Aufstieg unentbehrlichen Leistungsmerkmale wie Durchhaltevermögen keine Entwicklungsmöglichkeit mehr gehabt.
Ein weiteres könnte bei einer Ursachenanalyse bedacht werden: die unter Aufstiegsaspekten negativen Auswirkungen des mit zunehmendem Wohlstand paradoxerweise zunehmenden Sicherheitsdenkens und der mit der vielbeklagten Ökonomisierung einhergehenden Rechenhaftigkeit. Aus der bedenklichen Kombination solcher gesamtgesellschaftlichen Mentalitätsveränderungen resultiert vielfach der von Frau Professor Köcher beobachtete Statusfatalismus. Da steht dann am Anfang nicht mehr der bloße Aufstiegswille, sondern die Frage des Aufstiegskandidaten: "Wenn ich diese oder jene Förderungsmaßnahme auf mich nehme, ist dann mein Aufstieg auch sicher?" Da Aufstieg aber immer von vielerlei Unwägbarkeiten abhängig ist, denen sich der auf Sicherheit bedachte Kandidat lieber nicht aussetzen will, unterbleibt der ganze Anlauf. Könnte also nicht auch die Ökonomisierung und das vorherrschend gewordene Sicherheitsdenken eine der Ursachen für weniger Aufstieg sein?
Gewiss ließen sich noch mehr Mit-Ursachen für "weniger Aufstieg" auffinden, doch es kommt hier nicht auf die Vollständigkeit der Ursachen an. Vielmehr sollte der dem eingangs erwähnten Reflex: "Mehr Förderung" zugrundeliegende Anspruch in Frage gestellt werden, die alleinige oder hauptsächliche Ursache für das Phänomen "weniger Aufstieg" sei unzulängliche Förderung. Tatsächlich haben wir es mit einer Vielzahl von Ursachen zu tun, von denen unzulängliche Förderung nur eine ist. Wenn nun aber – in Verkennung der vorliegenden Multikausalität – nur eine der Ursachen beseitigt wird, wird sich an dem bedauerlichen Gesamtphänomen von weniger Aufstieg auch nur wenig ändern können. Alsbald wird dann der reflexhafte Ruf ertönen: "Noch mehr Förderung!" Anschließend wird sich noch weniger ändern, und wir entfernen uns nur noch weiter von unserem Ziel. Diese wenig effiziente Prozedur lässt sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen beobachten. Sie beruht auf dem eilfertigen Alleinzuständigkeitsanspruch von Staat und Gesellschaft, der auf die Entmündigung des Individuums hinausläuft, sofern diesem denn überhaupt Selbständigkeit und Eigenverantwortung zugestanden wird. Im übrigen zeigen unsere Überlegungen, dass nicht Chancengleichheit und Aufstiegsmöglichkeiten selbst sich verringert haben, sondern dass die Inanspruchnahme dieser Möglichkeiten zurückgegangen ist. Ganz abgesehen davon, dass Chancengleichheit für je unterschiedlich, also ungleich disponierte Individuen, aus denen unsere Spezies nun einmal besteht, letzten Endes gar nicht erreichbar ist.

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