Mittwoch, 10. November 2010

Von der Fehlentwicklung der Sozialsysteme zur Fehlentwicklung des Individuums

Ihren Ursprung haben die großen Sozialsysteme in den umwälzenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts. Für ihre kräftige Weiterentwicklung waren die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932 und dann wieder die verheerenden Zerstörungen des 2. Weltkrieges massive Impulse.
Der Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzende, historisch gesehen ungewöhnlich lang anhaltende Wirtschaftsaufschwung in den westlichen Ländern hat dann einen in der Geschichte noch nicht gesehenen Massenwohlstand gebracht. Rätselhafterweise sind mit diesem unvergleichlichen Wohlstandswachstum die sozialen Sicherungssysteme zu ansehnlichen Großorganisationen angewachsen. Das Rätsel, vor dem wir verwundert stehen (sollten!), lautet: Wie ist es zu erklären, dass Sicherungssysteme, die aufgrund extremer Notlagen entstanden sind, nach deren Beseitigung, also nach dem Fortfall dieser Grundlage, weiter bestehen? Oder anders gefragt: Müssten nicht soziale Not- und Hilfsorganisationen um so kleiner werden, je erfolgreicher sie arbeiten, und am Ende der Not wieder ganz entbehrlich sein?
Die nächstliegende Antwort auf unsere Rätselfrage ist diese: Einmal entstandene staatliche Organisationen wachsen nach dem Naturgesetz der Bürokratie völlig unabhängig sowohl von ihren Ursprüngen als auch von ihren Zielen ganz aus sich selbst heraus weiter. Notfalls beschäftigen sie sich in unaufhörlichen "Struktur-Reformen" völlig ausreichend mit sich selbst. Diese Beobachtung ist allerdings nur der kleinere Teil von des Rätsels Lösung.
Deren größerer Teil ist der Umstand, dass die Zielsetzung der in äußerster Not entstandenen sozialen Sicherungssysteme von der Politik langsam und unauffällig, aber höchst erfolgreich abgeändert worden ist: Ziel ist nicht mehr die Linderung von Not, sondern die Umverteilung von Wohlstand. Die Sozialsysteme sind zu einer riesigen Umverteilungsmaschinerie mutiert, und die Umverteilung "höret nimmer auf"! Jedenfalls so lange nicht, wie die Menschen Individuen bleiben mit je unterschiedlichen Fähigkeiten und – infolgedessen! – unterschiedlichen Lebensleistungen und wie sie nicht in einer fernen Zukunft zu identischen Klonen mutieren.
Zu der erwähnten grundsätzlichen Änderung der Zielsetzung unserer Sozialsysteme zitiert die FAZ den wie immer scharfsichtigen Kurt Biedenkopf (FAZ vom 14.1.2006 "Ein Stück Nationalkultur"). Dort heißt es u. a.:
"Mitte der fünfziger Jahre bat Bundeskanzler Adenauer eine kleine Gruppe von Fachleuten, herauszufinden, was die soziale Aufgabe des Staates sei. Zehn Jahre nach dem Ende des Krieges kamen die Fachleute zu dem Ergebnis, der Staat müsse sich, so wörtlich, auf die 'basic needs' konzentrieren. Wenn er darüber hinausgehe, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung abzusichern, begründe er in zunehmendem Umfang Abhängigkeiten. Er ist dann demnach gezwungen, sich Organisationen zu bedienen, die immer mehr nur ihre eigenen Interessen vertreten"
Der frühere sächsische Ministerpräsiden Kurt Biedenkopf (CDU), der diesen Rückblick bei den Bitburger Gesprächen zur Rechtspolitik tat, nannte als Kontrast zu jener Staatsaufgabe die Düsseldorfer Grundsätze der CDU von 1949: Die Christlichen Demokraten propagierten eine "umfassende Sozialpolitik", um breite Schichten des Volkes, wie es damals hieß, mit der "neuen Ordnung" zu versöhnen. Die Aufgabe lautete also nicht Sicherung der grundlegenden Bedürfnisse, sondern: Integration. Dieser Weg wurde nach Biedenkopfs Ansicht weiter beschritten: Er habe zu der immer stärkeren Belastung der sozialen Sicherungssysteme geführt, die auf dem Modell der Vollbeschäftigung in einer Industriegesellschaft beruhten, zu Institutionen, die zu Selbstzwecken geworden seien, die sich selbst verwalteten und von denen deshalb auch keine grundlegende Erneuerung zu erwarten sei. Wenn er heute von den beiden großen Volksparteien höre, die Menschen sollten mehr Verantwortung übernehmen, fuhr der einstige CDU-Ministerpräsident fort, so sei das problematisch. Schließlich hätten diese Parteien den Bürgern dreißig Jahre lang gesagt, dass sie sich um Vorsorge nicht kümmern müssten. Die Deutschen als Kinder von Vater Staat. Biedenkopf sprach vom "Verlust der Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, ..."
Bevor wir das Stichwort "Verantwortung" aufgreifen, noch zum Thema "Fehlentwicklung der Sozialsysteme": Systemimmanent laufen diese auf ihre schließliche Unfinanzierbarkeit hinaus, wenn sie nicht inzwischen schon, ohne dass wir dessen gewahr sind, erreicht ist: Immer mehr Mitglieder unserer Gesellschaft erhalten Sozialtransfers. Seit Jahrzehnten nimmt die Anzahl der Leistungsempfänger – politisch gewollt – ebenso kontinuierlich zu, wie die Anzahl der Leistungserbringer – demographisch bedingt – sich verringert. 1980 entfielen 16 Prozent der Bundesausgaben auf Soziales, heute sind es 54 Prozent. Irgendwann wird der Zeitpunkt erreicht sein, an dem das Gesamtsystem in die Unfinanzierbarkeit "umkippt".
Aus der Hypertrophie der Sozialsysteme folgt die Fehlentwicklung des Individuums. Das Gefühl für Verantwortung und das Bewusstsein von Verantwortung, zunächst für sich selbst und sodann für andere, verkümmern dauerhaft, wenn Verantwortung nicht immer wieder neu eingeübt und ausgeübt wird. Wenn für die Befindlichkeit des Menschen nicht zunächst er selbst und seine Angehörigen verantwortlich gehalten werden, sondern Gesellschaft und Umwelt. Und wenn die Gesellschaft der von ihr bereitwillig übernommenen Erstverantwortung für den Einzelnen vollumfänglich "gerecht" wird, dann bedarf es schließlich auch gar nicht mehr der Selbstverantwortung desselben Einzelnen. Sie wird entbehrlich und verschwindet. Wir sprechen dann schlicht von "Mentalitätswandel".
Mit der Ablösung der individuellen Verantwortung durch die soziale Verantwortung wird das Individuum dann auch gleich um seine angeblich ja unveräußerliche Würde gebracht.
Seine Würde erhält der Mensch entgegen der allgemeinen Meinung nicht mit der Geburt als solcher. Mit dieser erhält er nur die Anlage zu ihr. Seine Würde gewinnt der Mensch sich selbst, und zwar durch Leistung, wie geringfügig diese auch immer sein mag. Der Mensch ist auf Leistung hin angelegt, die ihm Selbstbestätigung bringt. Diese Grunddisposition zeigt sich schon an dem "kanne 'lleine" des Kleinkindes oder dem Stolz Jugendlicher auf das erste selbstverdiente Geld oder auch in der Volksweisheit "Hilf Dir selbst …". Würde und Selbst-bewusstsein gewinnt sich dem Menschen aus jeder Art eigener Leistung und nicht aus Almosen oder Sozialtransfer.
Die völlige Verkennung der menschlichen Natur durch die Politiker und die Gutmenschen und die verhängnisvolle Verwechslung von Subsidiarität und Solidarität laufen auf eine Fehlentwicklung hinaus, die zur Deformierung des Individuums führt. Unserem Gutmenschenzeitalter misslingt, nicht zuletzt dank dem materiellen Fortschritt der letzten hundert Jahre, die zugegebenermaßen immer schwierige Balance zwischen Subsidiarität und Solidarität, zwischen zu wenig und zu viel. Die daraus folgende hypertrophe Rundumversorgung verstellt zunehmend den Weg zu eigener Leistung, Selbstachtung und Selbstbewusstsein, also zu dem, was die Würde des Menschen ausmacht.

2 Kommentare:

  1. Sehr schöner Beitrag - gerne mehr!
    Hier kann man seinen Horizont erweitern.

    Zugleich ein doppelter Widerspruch zur Entstehung der Sozialsysteme:
    Nicht die Notlage, sondern machtpolitische Erwägungen sind nach meinem Eindruck vor allem verantwortlich für die staatlichen Initiative:

    „Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder wie soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte.“ Otto von Bismarck

    Der kräftige Ausbau erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg erst 1957 durch Adenauer, gegen den Widerstand von Ludwig Erhard. Grund: Adenauer wollte die Bundestagswahl gewinnen. Ergebnis: Absolute Mehrheit für die CDU.

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  2. Sehr netter Text!!

    Habe heute von meiner SoWi-Lehrerin den Text als Klausur vorgelegt bekommen, nachdem einer meiner Mitschüler ihr den Text zeigte:D

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